Gottesdienst am Sonntag Judika (6. April 2014)

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St. Johannis Rödental

Predigt:
Pfarrer Jörg Mahler

"Draußen vor dem Tor"


Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, und die Liebe Gottes, und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch allen. Amen.

Der Predigttext für den diesjährigen Sonntag Judika steht geschrieben im Brief an die Hebräer, im 13. Kapitel, die Verse 12 bis 14. Dort heißt es:

Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. 

Liebe Gemeinde!

Unser heutiger Predigttext führt uns mitten hinein in die Passionsgeschichte, ins Leiden und Sterben Jesu. Auch wenn wir erst am Karfreitag, am Ende der siebenwöchigen Passionszeit die Geschichte von Jesu Tod und Kreuzigung hören, so blicken diese drei Sätze aus dem Hebräerbrief schon voraus auf dieses Geschehen. Oder besser gesagt: Sie blicken zurück, denn der Hebräerbrief wurde ungefähr 50 Jahre nach Jesu Kreuzigung geschrieben. Der Apostel Apollos, welcher der Tradition nach diesen Brief geschrieben haben soll, beschreibt, welche Bedeutung und welche Folgen Jesu Tod für uns als Christen hat. Und damit befinden wir uns im Zentrum unseres Glaubens: Denn das Kreuz vom Karfreitag hängt in jeder Kirche und in den Klassen- und Krankenzimmern, genauso wie um den Hals vieler junger Damen. Was also berichtet uns Apollos über das Kreuz und seine Bedeutung?

I.

Er schreibt: Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor.

Draußen vor dem Tor hat Jesus gelitten. Ich selber war noch nicht in Jerusalem. Dort aber sind noch die Fundamente der Stadtmauer und der Tore aus der Zeit Jesu zu sehen. Man kann sich gut den Weg vorstellen, den Jesus nehmen musste, vom Ort seiner Verurteilung durchs Stadttor hindurch hinaus vor die Stadt bis zum Berg Golgatha, der Hinrichtungsstätte Jerusalems. Dieses „draußen vor dem Tor“ ist für Apollos entscheidend.

In früheren Zeiten waren das Tor und die Stadtmauer wichtig. Nur wer nachts innerhalb der Stadt war, der war in Sicherheit. Doch nicht jeder durfte in die Stadt – meist nur diejenigen mit Bürgerrecht. Die Bauern wohnten in den Dörfern, und die Tagelöhner in armseligen Hütten direkt vor der Stadtmauer. Zum Arbeiten oder zum Verkaufen der Waren durften sie hinein, nachts aber mussten sie draußen bleiben. Sie hatten weniger Rechte und weniger Ansehen als die Stadtbürger. Und auch die Kranken mussten vor die Stadtmauer: Das kennen wir ja auch aus vielen mittelalterlichen Städten bei uns: Die Spitale wurden immer vor der Mauer gebaut, damit diejenigen mit ansteckenden Krankheiten möglichst mit kaum jemanden in Berührung kommen. Und auch der Galgenberg lag meist außerhalb der Mauer, wo die Verbrecher hingerichtet wurden. Drinnen die feinere Gesellschaft, Bürger und Handwerker. Und vor dem Tor die, die man zwar braucht, die aber eher am Rande der Gesellschaftsordnung stehen.

Wenn wir uns das so bewusst machen, dann bekommt Jesu Leiden draußen vor dem Tor plötzlich eine ganz neue Dimension: Er leidet nämlich dort, wo sowieso schon die Geringen und Verachteten ihr Leben fristen. An dem Ort außerhalb des Lagers, der auch im Alten Testament oft als unrein gilt, leidet und stirbt der Sohn Gottes. „Dort, wo sich scheinbar niemand um Gott kümmert, dort geschieht das für das Heil entscheidende. Dort, wo die Ausgestoßenen leben und sterben, dort leidet Jesus und heiligt diese Menschen durch sein Blut.“

 Dieses draußen wird zum geweihten, heiligen Ort, weil an ihm göttliches Blut fließt. Gott ist dort, wo sonst niemand freiwillig lange bleibt, bei den Menschen in ihrer Not und ihrer Angst. Das ist ja das, was Jesus schon zeit seines Lebens getan hat: zu den Menschen zu gehen, sie aufzurichten. Und nun stirbt er seinen Tod nicht, wo die Reichen und Satten sind, sondern bei denen, die ihren Gott besonders brauchen. Dadurch werden sie wertgeschätzt, dadurch fällt göttliches Licht auf die da draußen. Das ist für Apollos die Bedeutung des Kreuzes: Durch Jesu Blut werden die Menschen geheiligt.

Das Wort „heilig“ heißt übersetzt „zu Gott gehörig“. Einen Menschen heiligen, das heißt also: ihn zu Gott bringen, wegräumen, was von Gott trennt, diesen Menschen der Gnade und Liebe Gottes bewusstmachen. Jeder Mensch besitzt seine Würde dadurch, dass er ein Ebenbild Gottes ist, dass Gott ihn voller Güte anschaut. Diese Würde jemandem bewusst machen – gegen alle Selbstzweifel und gegen das eigene Vergessen der Gnade Gottes, gegen die Kritik durch andere Menschen und gegen Schikanen durch Arbeitgebern und Behörden.

Menschen heiligen, zu Gott bringen, das ist besonders auch die Aufgabe des Tempels in Jerusalem gewesen: Durch ein Opfer wird der Israelit am großen Versöhnungstag mit Gott entsühnt. Doch dieser Kult auf dem heiligen Tempelberg ist weit weg von den Leuten draußen. Diesmal ist nicht das Blut der Schlachtopfer geflossen, sondern vielmehr: nämlich Jesu eigenes Blut: Aus den Wunden an der Stirn, die die Dornenkrone gerissen hat, aus der durch die Hiebe aufgeplatzten Haut, aus den Nägelmalen und der Seitenwunde, die der Speerstoß verursacht hat. Und auch nicht auf dem Tempelberg, sondern draußen vor der Stadt, wo die Kadaver der im Tempel geopferten Tiere weggeworfen und verbrannt wurden. Dieser Ort vor dem Tor ist wichtig und zeigt: Hier ist Gott! Er zeigt seine Nähe all denen, die sich wie Abfall weggeworfen vorkommen.

Durch die Worte von Apollos gewinnt für mich der Ort der Kreuzigung eine ganz neue Bedeutung: Es ist nicht einfach der Hügel namens Golgatha, es ist draußen vor dem Tor. Und das heißt: bei den Menschen, die sich wie „draußen“ vorkommen. Diese Menschen sind wertgeschätzt, geheiligt, sie gehören zu Gott.

II.

Apollos zieht daraus die Konsequenz, und fordert die Gemeinden auf:

So lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen.

Lasst uns hinausgehen aus dem Lager! Das kann heißen: Lasst uns zu den Orten gehen, wo Menschen „draußen“ sind: draußen aus der Gesellschaft, draußen aus einem fröhlichen und harmonischen Leben. Mutter Theresa hat das getan, als sie zu den Ärmsten der Armen ging, Papst Franziskus hat das getan, als er noch Pater in den Armenvierteln war. Jeder Christ kann das im Kleinen tun, auch hier in Rödental. Es fängt damit an, dass ich nicht verächtlich die Nase rümpfe, wenn ich seltsame Gestalten sehe, die halb versteckt ihr Bier trinken. Ich zeige Ihnen keine Verachtung, sondern ich grüße sie freundlich. Das gibt diesen jungen Leuten das Gefühl, dass sie wertgeschätzt werden, und das kann ihr Selbstbewusstsein stärken und sie und mich selbst verändern. Hinausgehen, das heißt für unser Pfarramtsteam gerade: Wir nehmen uns einer Familie an, die Asyl in Deutschland sucht. Wir laden sie ein auf eine Tasse Kaffee, wir unterstützen sie, und gehen auch auf Behörden zu. Das kann schon einmal unbequem werden, sich für andere einzusetzen.

Lasst uns hinausgehen aus dem Lager, und Jesu Schmach tragen: Apollos ermuntert auch dazu, Widerstände auf uns zu nehmen, denn das gehört dazu, wenn man hinausgeht: Andere biblische Schiften bezeichnen das als die Kreuzesnachfolge: Wer hinausgeht, der nimmt Jesu Kreuz auf sich, der trägt es, so wie es Simon von Kyrene durchs Stadttor bis Golgatha getragen hat. Jesu Kreuz tragen, seine Schmach auf sich nehmen, das heißt: Vom Bequemen ins Unbequeme gehen, sich von sicheren Wegen aus auf unbekannte Wege einlassen, Zeit und Energie zu opfern, und sich auch nicht davon irremachen lassen, was die anderen über uns denken, wenn wir uns für diesen oder jenen Menschen engagieren. Wer hinausgeht vor das Tor, wer das bequeme Lager verlässt, der muss dafür auch etwas aufgeben.

Aber es geht dabei um etwas Wichtiges, nämlich wie Apollos sagt, um die zukünftige Stadt Gottes! Um eine Gesellschaft, in der es gerecht zugeht, in der jeder sein Recht bekommt, in der das Zusammenleben von Rücksicht und gegenseitiger Hilfe geprägt sein wird. Danach zu streben, sich dafür einzusetzen, das ist ein Kennzeichen von Christen.

Der Apostel sagt das so: Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. Dieser Verswar die Jahreslosung des vergangenen Jahres 2013. Und er ermuntert uns, uns nicht an vergänglichem Festzuhalten, nicht Angst zu haben, etwas zu verlieren, sondern offen und bereit zu sein für Neues im Leben, für die Orte und Menschen, wohin mich der Herr führt, eine  gute Zukunft zu suchen und dafür einzutreten.

Wer hinaus geht vor das Tor, den kostet das einiges. Aber er hat umso mehr zu gewinnen: Denn er weiß sich auf dem gleichen Weg, den unser Herr gegangen ist, und er weiß, dass er auf diesem Weg mit Gott unterwegs ist, und dass er mitbaut an der zukünftigen Stadt.

Noch eines aber ist wichtig zu sagen. Manch einer fühlt: Ich habe keine Kraft, hinauszugehen. Denn ich selber fühle mich, als wäre ich draußen. Ich selber bräuchte Christus, der zu mir hinauskommt. Auch wenn ich in der sicheren Stadt wohne, und nach außen hin alles gut ist, so trage ich doch meine ganz eigene Last, fühle mich manchmal nicht verstanden und einfach draußen. Aber gerade wenn jemand so fühlt, dann gilt das, was Apollos über das „Draußen“ schreibt: Jesus hat diesen Ort geheiligt, und jeden, der an diesem Ort draußen ist. Diese Botschaft gilt auch Dir. Lass sie dir immer wieder zusagen: Jetzt gerade durch Apollos, gleich dann in Brot und Wein, danach dann im Segen. Lass es Dir immer wieder neu ins Herz schreiben: Gott ist da, wenn du draußen bist. Er hat dich mit sich selbst versöhnt, er achtet dich wert. Daraus kannst Du Kraft und Selbstbewusstsein gewinnen.

Ich schließe mit den fünf modernen Seligpreisungen des ehemaligen Hamburger Hauptpastor Helge Adolphsen, die die bergende Wärme und das verändernde Feuer der Worte des Apollos neu formulieren:

Selig sind, die herausgehen aus den Lagern sakraler Weltflucht, aus der babylonischen Gefangenschaft klerikaler Anpassung und unpolitischer Realitätsferne – denn nur sie sind wie Jesus!

Selig ist, wer um Golgatha keinen Umweg macht – denn nur er bleibt dem Ärgernis des Kreuzes auf der Spur.

Selig sind, die Konflikte nicht meiden und Widerstand nicht scheuen, die auf verlorenem Posten kämpfen und gegen den Strom schwimmen – denn nur sie tragen die Schmach Christi an ihrem Leib in die Welt.

Selig sind, die da Heimweh nach Gott haben – denn sie werden nach hause kommen!

Selig sind, die sich nicht in einen Warteraum der Zukunft abdrängen lassen, sondern ihre Hoffnung jetzt ausprobieren wollen.

Amen.

Und der Friede Gottes, der all unser Denken übersteigt, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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