Gottesdienst am Karmontag (14. April 2014)

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Gemeindezentrum St. Johannis 

Predigt:
Pfarrer Jörg Mahler

"Die Salbung in Bethlehem und
der Verrat des Judas"

Liebe Schwestern und Brüder!

In der Karwoche erinnern wir uns an die letzten Tage Jesu in Jerusalem. Nach dem ausdrücklichen Wunsch Jesu sollen wir dabei auch jener Frau gedenken, die ihn mit wunderbar duftendem Salböl gesalbt hat.

Die Situation kommt uns auf den ersten Blick seltsam vor. Am späten Nachmittag sitzt eine Gruppe von Menschen in Bethanien zum gemeinsamen Essen beisammen. Jesus ist unter den Gästen. Das Essen ist aufgetragen, intensive Gespräche finden statt. Plötzlich kommt eine Frau herein. Wortlos geht sie zu Jesus, zerbricht ein Glas mit kostbarem Nardenöl und gießt es vorsichtig über sein Haupt. Das Öl fließt herab, der wunderbare Duft des edlen Parfüms breitet sich in dem Raum aus. Sie wird es wahrscheinlich in seinen Haaren verteilt und eingerieben haben.

  1. Armenfürsorge als wichtige Aufgabe in der Nachfolge Jesu 

    Die Jünger sind zunächst sprachlos, sie halten die Luft an. Was wird Jesus sagen? --- Sie haben guten Grund zu erwarten, dass er sagt: „Lass ab, gute Frau! Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern um zu dienen.“, oder dass er sagt: „Höre auf! Verkaufe dein Öl und gib das Geld den Armen. Denn was Du einem von meinen geringsten Brüdern getan hast, das hast Du mir getan.“. Doch Jesus lässt die Frau gewähren. Er genießt es sogar.

    Da können die Jünger nicht mehr anders, es bricht aus ihnen heraus: „So ein Skandal! So eine Verschwendung!“. Wieviele Arme hätte man mit diesem Geld speisen und mit dem Nötigsten versorgen können? Denn Nardenöl wird aus Indien eingeführt und das Fläschchen ist 300 Denare wert – das ist das Jahresgehalt eines einfachen Arbeiters. Ich verstehe den Protest der Jünger. Ein paar Tropfen des kostbaren Öls hätten es auch getan, und den Rest hätte man verkaufen können. Die Jünger haben viel von ihrem Meister gelernt: Sie haben gelernt, dass die soziale Verantwortung für die Schwachen in der Gesellschaft die Aufgabe jedes einzelnen Menschen ist, und erst recht derer, die Gott nachfolgen. Sie wollen ihre Sachen gut machen, ihren Glauben richtig leben. Ich bin auf ihrer Seite. 

  2. Einfühlung in Jesus: der Leidende und Sterbende

    Aber Jesus nimmt diese Frau in Schutz:

    Lasst sie in Frieden! Was betrübt ihr sie? Sie hat ein gutes Werk an mir getan.

    Was schätzt Jesus an dem, was die Frau tut?

    Schauen wir auf seine Situation: Die Lage Jesu spitzt sich immer mehr zu: Die Hohenpriester und einige der Schriftgelehrten haben längst beschlossen, dass sie Jesus beseitigen wollen. Während Jesus sich hier in Bethanien befindet, überlegen sie fieberhaft, mit welcher List sie ihn ergreifen könnten. Diese Frau ahnt die Bedrohung und sein nahes Ende. Sie fühlt Jesu Unsicherheit und seine Angst vor dem Kommenden. Sie hat einen inneren Drang, der sagt: Ich muss jetzt Jesus etwas Gutes tun. Und so tut sie einfach das, was ihr ihr Herz, ihre Intuition eingibt.

    Sie steht damit im Gegensatz zu Petrus, der Jesus zwar den Gesalbten nennt, aber als Jesus sein Leiden ankündigt, da reagiert er mit Vorwürfen und will es nicht ernstnehmen. Andere Jünger verfallen auf dem Weg nach Jerusalem in Rangstreitigkeiten und Verteilung von Posten. Judas wendet sich von Jesus ab. Zu diesem Zeitpunkt, als die Jünger mit sich beschäftigt sind oder seinen Weg ins Leiden nicht wahrhaben wollen, da kommt diese Frau. Sie schenkt ihm die menschliche Nähe, die er in Gethsemane von seinen Jüngern vergeblich erbitten wird – denn die werden schlafen. Obwohl die ganze Tischrunde so nah dran ist an dem Geschehen der Salbung, sind sie doch in Wahrheit unendlich weit entfernt, in einer Wirklichkeit, in der nur Logik und Verstand zählt, eine ordentliche Kosten-Nutzen-Analyse, aber keine emotionale Einfühlung. Jesus geht ins Leid, und diese namenlose Frau leidet entsetzlich daran.

    Deshalb verteidigt Jesus die Frau und sagt: „Sie hat meinen Leib im Voraus gesalbt für mein Begräbnis!“. Er interpretiert ihre Tat als vorweggenommene Totensalbung. Es tut ihm gut, dass diese Frau ihn ernst nimmt, ernst nimmt, dass sein Weg ins Leiden führt. Ein Toter wurde damals gesalbt, nicht nur um den Leichengeruch zu überdecken, sondern auch um ihm Ehre zu bezeugen und als Zeichen, dass der Gesalbte zu Gott gehört (Kaiser, Priester, orth. Taufe).

    Die Frau bezeugt ihm Ehre: Sie drückt durch die Salbung ihre enge Verbundenheit mit Jesus aus. Und er fühlt, dass er nicht allein ist. Auch wir kennen das: Die Nähe eines anderen Menschen hilft, Schweres leichter zu tragen.

    Die Salbung als Zeichen, dass der Gesalbte zu Gott gehört: Die Salbung sagt Jesus: Gott ist bei Dir, egal wohin Dein Weg führen wird. Dieses Mitsein Gottes wird Jesus in allen Anfechtungen die Kraft geben, seinen Weg bis zum Ende zu gehen.

    Die Frau drückt ihm ihre emotionale Verbundenheit aus und lässt ihm die Kraft Gottes spürbar werden. Deshalb sagt er: „Sie hat ein gutes Werk an mir getan.“.

    Hier begegnet uns Jesus ganz anders, als wir ihn sonst kennen. Sonst hat er den Menschen immer etwas gegeben. In seine Heilungen hat er seine ganze Kraft gelegt. Er war immer der, der für andere da war. Nun ahnt er, dass er bald allein sein wird. Und da nimmt er: Er nimmt die Zuneigung und Nähe dieser Frau. Er schöpft daraus selbst Kraft.

    Diese Frau ist für mich ein Vorbild für uns als Christen: Ihr Blick hat den anderen Menschen wahrgenommen. Das ist auch die Grundlage für unseren Dienst als Christen: dass wir uns einfühlen in den anderen Menschen, der uns begegnet.

    Und noch etwas lerne ich dazu von dieser Frau: Um Menschen zu trösten, ihnen Kraft zu schenken, braucht es manchmal gar nicht viele Worte. Wichtig ist, dass man ihnen Nähe zeigt. Vielleicht können wir in unserer Kirche ja auch wiederentdecken, wie heilsam eine Salbung sein kann. In der orthodoxen und katholischen Kirche wird die Krankensalbung praktiziert. Jesu Jünger haben auch Kranke gesalbt (Mk 6,13). Und dieses empfiehlt uns auch der Apostel Jakobus, wenn er schreibt:

    Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn.

    Diese Salbung soll „im Namen des Herrn“ geschehen, sagt Jakobus. Sie ist verbunden mit dem Gebet und vertraut auf die Kraft Gottes: Der Herr wird den Kranken wieder aufrichten. Und das gilt nicht nur in Krankheit, sondern auch bei anderen Sorgen und Problemen. Die Salbung mit dem Zeichen des Kreuzes auf die Stirn oder die Handgelenke lässt uns die Nähe Gottes spüren und riechen. Das gibt uns Kraft und Zuversicht für unsere Wege.

  3. Der Kairos: die rechte Zeit

    Eine Frage bleibt aber noch offen: Jesus verteidigt die verschwenderische Frau. Doch was ist mit dem Auftrag, den Armen beizustehen?

    Hören wir, was er sagt:

    Ihr habt allezeit Arme bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun; mich aber habt ihr nicht allezeit.

    Es kommt also alles auf den rechten Zeitpunkt an. Denn zu jeder Zeit ist etwas anderes wichtig. „Alles hat seine Zeit“, lesen wir schon beim Prediger. Die Jünger hatten nicht erkannt, was jetzt dran, an der Zeit ist.

    „Mich habt ihr nicht alle Zeit bei euch“ – im Angesicht Jesu sich ganz auf ihn einstellen, das ist das Gebot der Stunde. Und das ist auch die richtige Art, Gottesdienst zu feiern: dass wir uns ganz für ihn öffnen. Und dann, wenn die Zeit da ist, gehen wir hinaus und helfen den Armen, stellen uns den Problemen und Herausforderungen unserer Zeit, mit der Kraft und Liebe, die wir aus der Begegnung mit Christus gewonnen haben.

    Ich freue mich, dass soviele Gemeindemitglieder zwar kein Nardenöl „verschwenden“, aber ihre Zeit für die Gemeinde.

  4. Verschwenderisch ist die Liebe Gottes

    Verschwenderisch sein aus Liebe – so ist diese unbekannte Frau. Sie die Kosten nicht berechnet. So „überströmend“ ist auch die Liebe Gottes selbst. Denn auch Jesus hat sein Handeln nicht berechnet. Er lässt sich die Liebe zu den Menschen sogar sein Leben kosten. Am Beginn der Karwoche steht eine Geschichte von einer Liebe, die zwischen Jesus und der Frau, Gott und den Menschen hin- und herströmt. Diese Liebe kennt keine Schranken, und selbst der Tod wird Gottes überströmende Liebe nicht gefangen halten. Das schenkt uns wirklichen Trost und Hoffnung für alle dunklen Stunden.

    Das Öl dieser Frau hat Jesus auf seinem Weg ins Leiden gestärkt. Sicher hat Jesus noch lange diesen Duft in der Nase gehabt. Ich wünsche uns allen, dass uns der Duft des Salböls und die Erinnerung an diese unbekannte Frau uns durch die Karwoche begleiten. Ich wünsche uns, dass auch wir solche Zeichen der Liebe erfahren, die uns durch schwere Zeiten tragen können. Und dass wir anderen Menschen solche Zeichen der Liebe senden. Amen.

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