Predigt am 10. Sonntag nach Trinitatis - 16. August 2020



St. Johannis

Predigt:
Diakon Günter Neidhardt

"Tag für Tag"

Predigttext Römer 11, 25 – 32

Ganz Israel wird gerettet werden

Ich will euch, Brüder und Schwestern, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, bis die volle Zahl der Heiden hinzugekommen ist. Und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jesaja 59,20; Jeremia 31,33): »Es wird kommen aus Zion der Erlöser; der wird abwenden alle Gottlosigkeit von Jakob. Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.« Nach dem Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber nach der Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Denn wie ihr einst Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams, so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen. Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.

Liebe Gemeinde,

ich glaube es kommt selten vor, dass eine Predigt mit einem Statement des Verfassungschutzpräsidenten beginnt. Aus gegebenen Anlass zitiere ich Thomas Haldenwang aus einem Interviewbericht  in der Süddeutschen Zeitung vom 7.August 2020, ich zitiere:

Verfassungsschutzchef warnt vor neuen Formen des Antisemitismus. Der Judenhass hat sich in Deutschland zu einem gemeinsamen ideologischen Kitt von Rechtsextremisten, Islamisten und Linksextremisten entwickelt. Zu diesem Ergebnis kommt das Bundesamt für Verfassungsschutz in einem Lagebild zum Antisemitismus, welches der Inlandsnachrichtendienst erstmals erstellt hat. "Bis hinein in bürgerliche Kreise" reichten judenfeindliche Ressentiments, sagt Thomas Haldenwang im SZ-Interview.

Liebe Schwestern, liebe Brüder

Tag für Tag – sagt die Statistik sind in unserm Land antisemitische Übergriffe zu verzeichnen. In Deutschland im Jahr 2020. Im 75. Jahr nach dem Ende der NS-Herrschaft. Dem Ende der Vernichtung von Menschen jüdischen Glaubens – und ganz vieler anderer. Im Mai jährte sich das Kriegsende in Mitteleuropa zum 75. Mal, In diesen Tagen vor 75 Jahren endete der Krieg im Pazifik mit den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki.

Und heute im Jahr 2020?

Wieder greifen Menschen andere Menschen an. Mit Worten, mit Propaganda. Mit Waffen. mit Spucke und Fäusten. Weil sie Ivrit – Neuhebräisch – sprechen. Eine Kippa tragen. In die Synagoge gehen. Vermeintlich jüdisch aussehen – was immer das auch sein mag.

Viele Menschen jüdischen Glaubens, die in unserem Land leben, leben in Angst und Unsicherheit. Fürchten gar um ihr Leben. Scheuen sich, ihre Religion offen zu leben.

Tag für Tag.

Und die Gewalttäter wissen was sie tun. Schlagen auf Menschen ein, die vermeintlich anders sind. Schrecken vor Mordtaten nicht zurück. Der Angriff auf die Synagoge in Halle im Oktober 2019 ist uns noch in Erinnerung.

Anders glauben. Anders leben. Anders beten. Für die Täter sind es klare Feindbilder. Althergebracht. Die Juden sind schuld. Das war im Mittelalter schon so, und bis heute höre ich das. Ja selbst Corona soll eine jüdische Verschwörung sein.

Und dann hören sie vielleicht, dass auch Christinnen und Christen wieder sagen, das Alte Testament sei doch nicht so wichtig, eigentlich überflüssig. Dass wir das als Christen gar nicht bräuchten.

Dabei, liebe Mitchristinnen und Mitchristen, haben wir allen Grund, solchen Umtrieben, wo wir ihnen begegnen, zu widerstehen. Zu widersprechen. Uns entgegenzustellen. Uns zu positionieren. Klar und eindeutig. Ohne Wenn und Aber. Gerade in diesen Tagen, in denen die Gräuel der Nazidiktatur 75 Jahre her sind. Und es immer weniger Überlebende gibt, die uns Nachgeborenen davon berichten können. Da gilt es schon, Medien wahr zu nehmen. Berichte. Dokumentationen. Und Urkunden. Erinnerungskultur aufzubauen.

Denn auch das hören wir immer wieder: Es muss doch mal Schluss sein mit dem Erinnern und gedenken. Nein muss es nicht. Ganz und gar nicht. Und Erinnerung geschieht – Gott sei Dank an vielen Plätzen. So wurde Ende 2019 der 75.000 Stolperstein verlegt. Auf dem Gottesdienstblatt ist einer davon abgebildet. In Coburg findet man diese Stolpersteine vor Häusern in denen jüdisches Leben gelebt wurde. Achten Sie mal darauf. Ein Tropfen der Erinnerung im Meer des Vergessens. Immerhin: ein Tropfen.

Ich habe eingangs den Predigttexte in der Lutherübersetzung vorgelesen. Ein bisschen verschachtelt und vielleicht nicht gleich so einfach zu verstehen. So lese ich noch einmal den Abschnitt, den Paulus an die Christinnen und Christen in Rom schreibt – in einer neuen Übersetzung, aus der Basisbibel.

Brüder und Schwestern, ich will euch über folgendes Geheimnis nicht in Unkenntnis lassen. Denn ihr sollt euch nicht selbst einen Reim auf die Sache machen: Tatsächlich hat Gott dafür gesorgt, dass sich ein Teil von Israel vor ihm verschließt. Das soll aber nur so lange dauern, bis alle heidnischen Völker sich ihm zugewandt haben. Und auf diese Weise wird schließlich ganz Israel gerettet werden. In der Heiligen Schrift heißt es ja auch: „Vom Zion her wird der Retter kommen und alle Gottlosigkeit von Jakob nehmen. Das ist der Bund, den ich, der Herr, mit ihnen geschlossen habe. Er wird erfüllt, wenn ich ihre Schuld von ihnen nehme.“ Betrachtet man es von der Guten Nachricht her, dann sind sie Gottes Feinde geworden. Und das kommt euch zugute. Betrachtet man es aber von daher, dass Gott sie erwählt hat, dann bleiben sie von Gott geliebt. Es waren ja ihre Vorfahren, die er einst erwählt hat. Denn was Gott aus Gnade geschenkt hat, das nimmt er nicht zurück. Und wen er einmal berufen hat, der bleibt es. Früher habt ihr Heiden Gott nicht gehorcht. Aber weil die Juden ungehorsam waren, hat Gott jetzt euch sein Erbarmen geschenkt. Und genauso gehorchen sie jetzt Gott nicht, weil er euch sein Erbarmen geschenkt hat. Und dadurch werden künftig auch sie sein Erbarmen finden. Denn Gott hat alle im Ungehorsam vereint, weil er allen sein Erbarmen schenken will.

Liebe Gemeinde, Paulus sagt ganz deutlich, dass im Augenblick Menschen aus dem jüdischen Glauben und Menschen aus dem christlichen Glauben einen je eigenen Zugang zu Gott haben.

Wir liebe Schwestern und Brüder, waren Heiden. Gojim. Völker. Sind Nachfahren von Menschen, die ganz ursprünglich den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs und natürlich auch den Sarah, Rebecca und Lea, nicht kannten. Die andere Gottheiten anbeteten. Und erst später dazukamen. Durch Jesus Christus. Den Juden. Der Gott nahe war. Der Gott lebte. Der die Schranken durchbrach zu den Völkern hin. Er hat uns erst en Zugang zum Gott Israels eröffnet

Tag für Tag dürfen wir uns daran erinnern lassen. Wir sind Hinzugekommene. Hineingenommene.

Und die, die Gott zuerst berufen hat, denen er in der hebräischen Bibel seine Nähe verheißen hat – sie bleiben Gott nahe. Bleiben Erwählte. Berufene. Gehören zu Gott. Auch wenn ihnen in der Geschichte Schreckliches widerfahren ist – den Holocaust möchte ich noch einmal, stellvertretend benennen. Als absoluten Tief-punkt des Antisemitismus. Untilgbar. Unauslöschlich. Dennoch: Gott bleibt seinem Volk nahe. Wird sie am Ende der Zeit retten. Gott sei Dank.

Auch uns wird Gott retten. Am Ende unserer Zeit. Das hat er verheißen. Durch Jesus Christus, den wir als den Messias erkennen. Durch Jesus Christus, an den wir als seinen Sohn glauben. Jesus Christus, der uns, den Völkern, diesen Gott nahebrachte. Und all seine Verheißungen.

Tag für Tag dürfen wir das mitnehmen. In den Alltag, in dem uns immer wieder Vorurteile begegnen. Dumme Sprüche. Ausgrenzung. Hintenansetzung von Menschen, die jüdischen Glaubens sind. Und Kippa tragen. Da dürfen / müssen wir mit Gottes Unterstützung eingreifen. Stellung beziehen. Mutig sein. Couragiert auftreten. Und dankbar, dass wir mit ihnen zusammen unseren Gott loben und preisen können – den Schöpfer – barmherzig und mächtig zu Allem.

Amen

Kanzelsegen