Lesepredigt für den 5. Sonntag der Passionszeit (Judika) - 29. März 2020

Lesepredigt von Pfr. Gottfried Greiner, abgeändert und mit eigenen Gedanken ergänzt von Roland Dier 

Gebet

Herr Jesus Christus, du schenkst uns Freude in allem Leide. 

Wir bitten dich um dein heilsames und frohmachendes Wort, dass es auch in diesen Tagen zu den Menschen kommt und in ihre Herzen dringt. 

Wir bitten für alle, die in Politik und Gesellschaft, in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, in Wissenschaft und Wirtschaft Verantwortung tragen: 

Sende deinen Geist, gib Weisheit und Verstand, Kraft und Liebe für die ihnen Anvertrauten. 

Wir bitten um Vernunft und Einsicht, um Geduld und Nächstenliebe bei allen Menschen. 

Sei bei den Kranken und Sterbenden.

 Mach uns alle gewiss, dass du bei uns bist und uns begleitest – heute und in Ewigkeit. 

Amen. 

Psalm 102 (2-8, 12-13, 20-23)

Herr, höre mein Gebet! Möge mein lauter Hilferuf doch bis zu dir dringen!
Verbirg dich nicht vor mir, jetzt, wo ich in Not bin!
Neige dich herab zu mir und schenk mir ein offenes Ohr; jetzt rufe ich zu dir – erhöre mich doch bald!

Denn meine Tage verflüchtigen sich so schnell wie Rauch, in meinen Gliedern brennt es wie Feuer.
Ich gleiche einem Vogel in der Wüste, einer Eule in verlassenen Ruinen.
Nachts finde ich keinen Schlaf, ich bin wie ein einsamer Vogel auf dem Dach.
Meine Tage gleichen dem Schatten, der am Abend immer länger wird ich verdorre wie das Gras.
Du aber, Herr, regierst für immer, jetzt und in allen künftigen Generationen wird man dich ehren.
Du selbst wirst dich erheben und dich der Stadt Zion voll Erbarmen zuwenden, denn es ist an der Zeit, ihr gnädig zu sein.
Ja, der Zeitpunkt dafür ist gekommen.

Er schaut herab aus seinem Heiligtum in der Höhe;
ja, der Herr blickt vom Himmel auf die Erde,
um das Seufzen der Gefangenen zu hören,
um die Todgeweihten zu befreien.

Und so werden sie in der Stadt Zion wieder den Namen des Herrn verkünden, seinen Ruhm verbreiten in Jerusalem,wenn Völker sich dort versammeln, Menschen aus allen Königreichen, um dem Herrn zu dienen.

Liebe Gemeinde,

der Predigttext für den 5. Sonntag der Passionszeit, Judika steht in Hebräer 13,12-14:

Jesus hat damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen vor das Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. Amen

Liebe Gemeinde! 

Lasst uns hinaus gehen vor das Lager. Klingt schon etwas seltsam, diese Aufforderung in Zeiten wie diesen. Sollten wir nicht eigentlich, ja müssen wir nicht drinnen bleiben, drinnen hinter den Toren der Stadt, hinter unseren Wohnungstüren?

"Draußen vor der Tür!", so heißt ein Theaterstück von Wolfgang Borchert. 

Die Hauptperson dieses Stückes ist der Kriegsheimkehrer Beckmann. Er hat ein steifes Knie und eine hässliche Gasmaskenbrille auf der Nase. Nach drei Jahren sibirischer Kriegsgefangenschaft findet er seine Frau in den Armen eines anderen. Er ist, wie es in den Vormerkungen zum Stück heißt, „einer von denen, die nach Hause kommen und die dann doch nicht nach Hause kommen, weil für sie kein Zuhause mehr da ist. Und ihr Zuhause ist dann draußen vor der Tür…“

Ohne eigene Schuld und ohne eigenes Zutun hat dieser Mann seinen Platz in der Stadt – und damit im Leben – verloren.

Er irrt um diese Stadt herum, sucht verzweifelt Eingänge, einen neuen Platz, wagt ein paar Schritte durch offene Türen, um wenig später – elender noch als zuvor – wieder „draußen“ zu sein. 

Es geht ihm wie einem Aussätzigen: Er ist exkommuniziert, aus dem Land der Lebendigen verbannt. Beckmann ist unansehnlich, ohnmächtig; er gehört nicht mehr dazu, ist heimatlos. Das ist kein Leben mehr. Obwohl Beckmann noch überlebt, ist er eigentlich schon tot. Seine Anklage ob der Übermacht des Todes, seine Frage, ob so ein Leben noch Sinn hat, seine Schreie verhallen am Ende des Stückes und bleiben ohne Antwort.

Ausgesperrt, rausgeschmissen, vor die Tür gesetzt, vertrieben, hinausgesetzt, ausgeschlossen – das ist die Erfahrung des Kriegsheimkehrers Beckmann. Diese Erfahrung müssen Menschen immer wieder machen. „Draußen vor der Tür“ fanden sich damals nach dem Krieg viele wieder, die im Sudetenland, in Schlesien oder einem anderem Ostgebiet wohnten; von heute auf morgen fanden sie sich ausgesperrt und heimatlos. 

„Draußen vor der Tür“ – finden sich die weltweit 70 Millionen Flüchtlinge vor. Menschen müssen ihre Heimat verlassen, weil sie keine wirtschaftliche Perspektive haben, weil ihr Land im Krieg versinkt, weil sie aus rassistischen oder religiösen Gründen verfolgt werden. Und die den Weg nach Europa suchen, sitzen wieder „Draußen vor der Tür“ im Niemandsland zwischen der Türkei und Griechenland oder auf der Insel Lesbos, weil sie keine Hilfe finden. Erst recht nicht in Zeiten von Corona, wo sich viele fragen ob wir nicht genug eigene Probleme haben. Sie werden „Draußen vor der Tür“ gehalten, weil die europäischen Staaten lieber an Zäunen und Mauern bauen, als an menschlichen und christlichen Lösungen. 

„Draußen vor der Tür“ – finden sich Menschen immer wieder vor im sozialen Leben. Wenn Ehen zerbrechen, sitzen Partner und Kinder draußen. Getrennt von der Familie müssen sie sich neue Beziehungen aufbauen und neue Freunde suchen. Und die Sorge ist groß, dass die Zahl der zerbrochenen Beziehungen in Zeichen von Ausgangsbeschränkungen zunehmen.

„Draußen vor der Tür“ – finden sich Menschen, wenn ein Unternehmen Pleite macht oder auch nur den Firmensitz verlegt. Dann sind auch langjährige Mitarbeiter plötzlich draußen und stellen sich die immer gleichen Fragen: Finde ich mit über 50 noch einen Arbeitsplatz? Reicht das Geld für die Schuldentilgung am Haus noch? Wie weit muss ich zu einem neuen Job fahren?

Kinder und Jugendliche finden sich draußen wieder, weil sie in der Klasse oder in den sozialen Medien nicht mithalten können oder aus irgendwelchen Gründen gemobbt und gemieden werden. Vieleicht liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden kennt ihr ja den einen oder andren von ihnen.

„Draußen vor der Tür“ – das ist verbunden mit Schmerzen, mit Alleinsein, mit dem Gefühl von überflüssig sein, oft auch mit Leid und mit Tod. 

Diese Erfahrung, die Menschen häufig machen müssen, nimmt auch das Wort aus dem Hebräerbrief auf. 

Hier noch einmal die Verse: 

Jesus hat, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor.

So lasst uns nun zu ihm hinausgehen vor das Lager und seine Schmach tragen.

Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.

In zweifacher Hinsicht nimmt der Schreiber des Hebräerbriefes die Erfahrung des „Draußen“ vor der Tür auf. Einmal im Blick auf das Leiden und Sterben Jesu. Er hat gelitten draußen vor dem Tor. Jesus ist auch einer von denen, die man nicht haben wollte, die man aus der Gemeinschaft, aus der ehrenwerten, anständigen Gesellschaft ausschließt. Für einen solchen wie Jesus gibt es keinen Platz in der Stadt. Mit seiner Meinung und seinen Ansichten, mit seinem Anspruch und seiner Lehre stört er; deshalb muss er weg; deshalb muss er raus aus der Stadt mit ihren wohlgeordneten und gesicherten Verhältnissen. 

Der andere Aspekt, unter dem in diesen Versen aus dem Hebräerbrief die Erfahrung des „Draußen vor der Tür“ aufgenommen ist, zielt auf die Gemeinde: Sie ist aufgefordert diesem Jesus nach draußen zu folgen: Lasst uns hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen; denn wir haben hier keine bleibende Stadt.

Also auch mit raus! Raus aus der Sicherheit der Stadt; raus aus den gefestigten Verhältnissen, aus dem Wohlstand; raus aus der gefestigten Rolle, aus der gesicherten Position, aus der Gruppe, die mich stabilisiert. Die Christen haben hier keine bleibende Stadt; ihr Platz ist draußen vor der Tür, draußen bei Jesus. 

Warum aber nimmt der Prediger des Hebräerbriefes gerade diese Erfahrung auf? Warum meint er, seine Gemeinde darauf hinweisen zu müssen, dass ihr Platz draußen vor der Tür ist? Warum ruft er seine Zuhörer so eindringlich auf, Christus zu folgen? Warum weist er sie darauf hin, dass sie hier keine bleibende Stadt haben? Warum mutet er ihnen zu, ihre Sicherheiten, Gewohnheiten, Errungenschaften, ihren sozialen Status aufzugeben und in die Ungewissheit, das Neue, das Leiden, die Niedrigkeit hinauszugehen? 

Der Hebräerbrief ist eine Predigt. Es ist eine Predigt an eine Gemeinde 20 Jahre nach der Zerstörung des Tempels. Sie hat sich zwar in Notzeiten und Verfolgungen vorbildlich verhalten, in der sich nun aber – da sie das überstanden hat – Glaubensmüdigkeit und Resignation breitmachen. Die Leute haben sich niedergelassen; sie haben es sich bequem gemacht und eingerichtet. Sie erwarten nichts Neues mehr, leben mehr oder weniger zufrieden oder auch unzufrieden vor sich hin. Man ist sich selbst genug, ruht sich auf den erworbenen Lorbeeren aus und schließt sich ab von anderen.

Das äußere Zeichen dieser schlaffen Selbstzufriedenheit ist, dass viele es nicht mehr für nötig halten den Gottesdienst zu besuchen. So ganz nebenbei – sind das nicht ganz aktuelle Fragen?

Gegenüber dieser Haltung macht der Prediger klar, wo der richtige Ort der Gemeinde ist. Er fordert die Leute auf, aus diesem Lager der Selbstzufriedenheit und Glaubensmüdigkeit, der Gewohnheit und Resignation aufzubrechen und hinauszugehen vor die Tür.

Aber was erwartet die Gemeinde dann „draußen vor der Tür“? Sollen sie auch leiden? Sollen sie sich wieder der Verfolgung und der Not aussetzen? Sollen sie wieder ihren Platz verlieren und draußen ziellos umherirren?

Anders als der Schriftsteller Borchert lässt der Prediger des Hebräerbriefes seine Zuhörer nicht ziellos und sinnlos „draußen vor der Tür“ umherirren. Anders als Beckmann wird den Christen nicht zugemutet, draußen sinnlos zu leiden und einen einsamen Tod zu sterben. 

Wenn die Christen rausgehen, dann gehen sie zu Christus, zu Christus, der auf Golgatha gelitten hat und gestorben ist – gelitten und gestorben, um seinen Weg der Versöhnung von Gott und Mensch zu Ende zu gehen. 

Wenn wir in den Sonntagen der Passionszeit dem Leidensweg Jesus Christi nachdenken, dann gehen wir auch mit nach draußen an den Ort der Schmach, des Leidens und des Todes. Wir tun dies aber nicht aus Lust am Leiden oder weil wir eine Art Todessehnsucht in uns hätten; nein, wir gehen mit hinaus, weil sich da draußen auch eine neue Art zu leben und ein neuer Umgang eröffnet. 

In der Stadt wird nach den alten Gesetzen gelebt; da gelten die überkommenen Urteile und Vorurteile, da herrschen die Sachzwänge und die festgefahrenen Vorstellungen. Draußen vor der Tür aber stehen wir bei Christus, da stehen wir bei den Armen, den Leidtragenden, den Einsamen, den Alten und Kranken und Schwachen, bei denen, die drinnen nichts mehr zählen und nicht mehr gefragt sind.

Draußen stehen die Christen bei Menschen wie dem Kriegsheimkehrer Beckmann, dessen Platz drinnen besetzt ist.

Draußen stehen wir bei den Vertriebenen der Kriege, den Flüchtlingen aus Syrien, Iran, Afrika, den Asylbewerbern in den Flüchtlingsunterkünften und Ankerzentren. 

Draußen stehen wir bei den Kindern, die von Erwachsenen vernachlässigt oder in der Klasse ausgegrenzt werden.

Draußen stehen wir bei den Menschen, auf deren Feldern in Afrika nichts mehr wächst, weil die Rosenzucht für Europa das Wasser abzieht; wir stehen bei den Menschen in Indien, die unsere Kleider nähen für Löhne, die kaum fürs Überleben reichen.

Der Prediger des Hebräerbriefes weist seiner Gemeinde, weist uns als Christen ihren, unseren Platz zu. Er will sie damit aus ihrer Glaubensmüdigkeit und Resignation, aber auch aus ihrer Selbstzufriedenheit und Bequemlichkeit herausrufen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, in der wir uns ausruhen könnten oder in der wir ein gesichertes Leben haben könnten. 

Dort draußen hören die Geflüchteten und die Außenseiter, dass Christus ihnen zu ihrem Recht verhelfen will. Wir Christen finden dort unseren Platz, wo wir auf die Schwachen und Bedürftigen zugehen. Dort draußen werden wir die Stimme Christi hören: Was ihr getan habt einem von diesen meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir getan.

Unser Platz ist auch nicht dort, wo man unter sich bleiben will. Wo man mit Andersdenkenden und Andersglaubenden nichts zu tun haben will. Diese Mauern einer selbstzufriedenen und in sich geschlossenen Gruppe, die mit anderen Gruppen nichts zu tun haben will, sind oft sehr hoch. Innerhalb dieser Mauern haben Christen keine bleibende Stadt. Deshalb gehen wir mit Christus raus aus unseren Grenzen und Mauern. Draußen vor der Tür ist unser Platz. Dies liebe Schwestern und Brüder gilt auch in Zeichen von Corona. Suchen wir also nach neuen Wegen nach draußen zu gehen. Ein Anruf, ein Brief oder auch die digitalen Medien sind so ein Weg. 

Wenn wir nach Draußen gehen werden wir Menschen finden, die unsere Zuwendung und Hilfe brauchen. Und dort werden wir Christus finden, der uns allen Recht schafft, uns zurechtbringt und die Welt versöhnt. Und wir werden die zukünftige Welt schauen, von der es in der Offenbarung heißt: Und er wird bei ihnen wohnen und sie werden seine Völker sein, und er selbst Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein.

Wer in dieser Welt draußen bei Christus steht, wird in der zukünftigen Stadt mitten drin sein bei Gott.

Amen.

Großer Gott, wir loben dich

Fürbitten des Lutherischen Weltbundes in Zeiten von Corona

O Gott, unser Heiland, zeige Dein Erbarmen für die ganze Menschheitsfamilie, die gerade in Aufruhr ist und beladen mit Krankheit und Angst. 

Höre unser Rufen, o Gott, höre unser Gebet. 

Komm uns zur Hilfe nun, da sich der Coronavirus auf der ganzen Erde ausbreitet. Heile die, die krank sind, unterstütze und beschütze ihre Familien, Angehörigen und Freunde vor Ansteckung. 

Höre unser Rufen, o Gott, höre unser Gebet.  

Schenk uns deinen Geist der Liebe und Besonnenheit, auf dass wir zusammenwirken, um die Ausbreitung des Virus und seine Wirkungen einzuschränken und zum Erliegen bringen zu können. 

Höre unser Rufen, o Gott, höre unser Gebet. 

Mach uns wach, aufmerksam und vorausschauend im Blick auf die Bekämpfung von Krankheiten überall: die Malaria, das Dengue-Fieber, die HIV-Krankheit und die vielen anderen Krankheiten, die bei Menschen Leid verursachen und für etliche tödlich enden. 

Höre unser Rufen, o Gott, höre unser Gebet.  

Heile unsere Selbstbezogenheit und unsere Gleichgültigkeit, wo wir uns nur dann sorgen, wenn wir selbst vom Virus oder anderem Leid getroffen sind. Eröffne uns Wege, aus unserer Zaghaftigkeit und Furcht hinaus, wenn unsere Nächsten für uns unsichtbar werden. 

Höre unser Rufen, o Gott, höre unser Gebet.   

Stärke und ermutige die, die im Gesundheitswesen, in Praxen und Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und anderen Bereichen der Medizin arbeiten: Pflegende, Fürsorgende, Ärztinnen und Ärzte, Klinikseelsorgerinnen und -seelsorger, Mitarbeitende in Krankenhäuser – alle, die sich der Aufgabe widmen, für Kranke und ihre Familien zu sorgen. 

Höre unser Rufen, o Gott, höre unser Gebet.  Inspiriere die Forschenden, die an Impfstoffen, Medikamenten und der Herstellung medizinischer Ausstattung arbeiten. Gib ihnen Erkenntnisse und Weitblick. 

Höre unser Rufen, o Gott, höre unser Gebet. 

Erhalte die Menschen, deren Arbeit und Einkommen durch Schließungen, Quarantänen, geschlossene Grenzen und andere Einschränkungen bedroht sind. Beschütze alle, die reisen müssen. 

Höre unser Rufen, o Gott, höre unser Gebet. Amen