Gottesdienst am Karfreitag - 2. April 2021

 


Predigt:

Pfarrer Jörg Mahler

"Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"

Predigttext: Mt 27, 33-54

Und als sie an die Stätte kamen mit Namen Golgatha, das heißt: Schädelstätte, 34 gaben sie ihm Wein zu trinken mit Galle vermischt; und als er's schmeckte, wollte er nicht trinken. 35 Als sie ihn aber gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider und warfen das Los darum. 36 Und sie saßen da und bewachten ihn. 37 Und oben über sein Haupt setzten sie eine Aufschrift mit der Ursache seines Todes: Dies ist Jesus, der Juden König.
38 Und da wurden zwei Räuber mit ihm gekreuzigt, einer zur Rechten und einer zur Linken. 39 Die aber vorübergingen, lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe 40 und sprachen: Der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz!41 Desgleichen spotteten auch die Hohenpriester mit den Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen: 42 Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Ist er der König von Israel, so steige er nun vom Kreuz herab. Dann wollen wir an ihn glauben. 43 Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, wenn er Gefallen an ihm hat; denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn. 44 Desgleichen schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren.
45 Und von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. 46 Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? 47 Einige aber, die da standen, als sie das hörten, sprachen sie: Der ruft nach Elia. 48 Und sogleich lief einer von ihnen, nahm einen Schwamm und füllte ihn mit Essig und steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm zu trinken. 49 Die andern aber sprachen: Halt, lass sehen, ob Elia komme und ihm helfe! 50 Aber Jesus schrie abermals laut und verschied51 Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriß in zwei Stücke von oben an bis unten aus. 52 Und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, und die Gräber taten sich auf, und viele Leiber der entschlafenen Heiligen standen auf 53 und gingen aus den Gräbern nach seiner Auferstehung und kamen in die heilige Stadt und erschienen vielen. 54 Als aber der Hauptmann und die mit ihm Jesus bewachten das Erdbeben sahen und was da geschah, erschraken sie sehr und sprachen: Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!

Predigt

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, und die Liebe Gottes, und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch allen. Amen.

Liebe Gemeinde,

der ehemalige Bamberger Theologieprofessor Rainer Lachmann erzählt von der Frage eines kleines Mädchens, die ihn erst einmal sprachlos gemacht hat. Er schreibt: „Ein fünfjähriges Mädchen, das mit mir auf einem schönen Frühlingsspaziergang an einem Kruzifix vorbeikommt, fragt mich: „Ist das wirklich oder nur ein gemachtes Bild?“. Das Kreuz ist für das Kind noch nicht zum Selbstverständlichen geworden, das man übersieht, das man nicht mehr merkt. Es berührt noch und weckt banges Fragen. Erhofft wird von mir die Antwort: „Nur ein gemachtes Bild“; das ermöglicht Distanz und schenkt Beruhigung; denn dieses grausame Bild gibt es ja in Wirklichkeit gar nicht… Und ich, was soll ich dem Mädchen antworten? Ein Bild ja, aber ein ganz „wirkliches“ Bild; ein Bild, das für unser Leben Wirklichkeit werden will und beansprucht, das keine Distanz erlaubt, sondern auf Identifikation dringt, das gefangennimmt, nein, das befreien will.“.[1]

Ihr Lieben, Kreuze sind oft genug unhinterfragte Inventarstücke in unserer Lebenswelt, die aber durch eine Kinderfrage oder andere Anlässe wieder fragwürdig werden.

  1. Leiden: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“

Zunächst einmal gilt: Das Kreuz ist ein wirkliches Bild. Zuallererst in dem Sinn, dass die dort dargestellte Szene tatsächlich geschehen ist. Es war wohl im Jahr 33 unserer Zeitrechnung. Römische Soldaten haben den Auftrag, eine Kreuzigung durchzuführen. Sie tun ihre Pflicht. Es gibt den Brauch, dem zum Tode Verurteilten einen schmerzstillenden berauschenden Trank zu verabreichen. Die Soldaten aber mischen ungenießbare Galle bei (Ps 69,22), so dass sie so die Quälerei nur noch verstärken. Die Habe der Hingerichteten gehört für gewöhnlich den Henkern. Daran sind sie interessiert, würfeln um die Kleidung (Ps 22,19). Für den Gekreuzigten eine Entwürdigung. Und schließlich noch ein letzter Akt für die Diener Roms: Der Grund für das Todesurteil ist ans Kreuz zu schreiben, als Abschreckung für andere: „Dies ist Jesus, der König der Juden“. Ein Aufständler also, einer, der die Macht an sich reißen wollte. Hohn und Ironie schwingt mit bei dieser Inschrift angesichts der elendigen Gestalt des vermeintlichen Königs.

Die Soldaten sind fertig mit ihm, mit diesem Verbrecher zwischen den mitgekreuzigten Verbrechern, dem sie auch noch die letzte Ehre raubten.

Doch damit nicht genug, Schmach und Hohn setzen sich fort: Passanten kommen vorüber, und auch die lästern ihn: „Hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist. Steig herab vom Kreuz!“. Aber Gottes Ausstieg aus dem Leid findet nicht statt. Mit ähnlichen Spottrufen verhöhnen ihn auch die jüdischen Autoritäten, die wohl extra zu seinem Kreuz gekommen sind, um ihren Triumpf mitzuerleben. Zum Chor der Schmähenden kommen nun auch noch die beiden neben ihm gekreuzigten Verbrecher hinzu: Selbst die Schicksals- und Leidensgenossen distanzieren sich von ihm.

Ein Mensch am Kreuz, und er bekommt nichts anderes zu hören als Spott und Hohn. Das ist die Wirklichkeit des Kreuzes: totale Distanzierung, kein Mitgefühl. Ungeheur glaubwürdig und verständlich ist das, was der Gekreuzigte schreit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“. Bei diesem schauerlichen Ereignis muss sich sogar die Sonne zurückziehen, eine Finsternis überkommt das ganze Land. Jesus schreit zum Himmel, aber Gott schweigt. Es ist und bleibt Karfreitag.

Jesus verzweifelt, er verzweifelt auch an seinem Gott. Hart, dieser Ruf aus dem Mund des Gottessohnes. „Mit der totalen Menschenverlassenheit nicht genug, erfährt Jesus am Kreuz auch noch die uneingeschränkte Gottverlassenheit.“[2]. Und so stirbt Jesus, mit einem letzten lauten Schrei. - -

Und wir? Wir setzen uns am Karfreitag mit diesem Schrecken des Kreuzes auseinander. Verdrängen den Schrecken des Kreuzes nicht, lassen uns darauf ein. Was macht das Kreuz Jesu mit uns? Können wir uns überhaupt wirklich in diesen Schrecken einfühlen?

Eine Kollegin hat folgende Gedanken zum Karfreitag auf Facebook geteilt:

Ich halte es für anmaßend zu sagen: Am Karfreitag sind wir traurig, weil Jesus Christus am Kreuz für uns gestorben ist.
Ich halte es für anmaßend zu sagen: Am Karfreitag erleben wir den Tod Gottes am Kreuz hautnah.
Ich halte es für anmaßend zu sagen: Am Karfreitag spüren wir das Kreuz, das Gott uns auferlegt hat.
Aber ich halte es für wahr und ich glaube: Es gibt diesen Moment im Leben, wo du nur noch Angst bist. Schwäche. Dunkelheit.
Es gibt diesen Moment im Leben, wo ein Riss durch dich geht.
Das ist das Kreuz: das schwach sein, das verloren sein. Das Ende deiner Stärke.
Der Moment, in dem die Welt sich ihre Wahrheit nimmt.
Und ich glaube: Das ist Karfreitag.

Ja, solche Momente gibt’s im Leben. Das sind unsere Kreuze.

Neulich habe ich einen Familienvater beerdigt. Schlimm, wenn jemand nach unseren Maßstäben vor der Zeit gehen muss, wenn er sein Kind nicht weiter hinein ins Leben begleiten, seiner Frau nicht weiter zur Seite stehen kann. Da ist eine große Lücke, da ist Verzweiflung.

Und häufiger als man denkt kommt es vor, dass jemand etwas Dummes getan oder gesagt hat, und dass dadurch die Beziehung zu einem lieben Menschen in die Brüche ging: Nur noch oberflächlicher Kontakt, oder überhaupt kein Kontakt mehr, das ist die Folge. Zwischen einer Mutter und ihrer Tochter. Zwischen einer Frau und ihrem Mann. Das belastet, das lässt in der Nacht nicht zur Ruhe kommen.

Auch junge Leute, Jugendliche kennen solche Erfahrungen. Da macht sich in der Schule eine Gruppe immer über den Gleichen lustig, wird er ausgegrenzt, gehänselt und verspottet. Und die Gruppe fühlt sich gut dabei, und sie ahnen nicht, was sie der armen Seele damit antun, wie schlimm sich das anfühlt: Ich will und ich kann nicht mehr.

Das sind unsere Kreuze, und noch viele mehr. Verlassen von Menschen, und auch das göttliche Wunder, dass alles wieder gut machen würde, bleibt aus: vielleicht also sogar verlassen von Gott.

Jesus, der Gekreuzigte: Ein wirkliches, echtes Bild, das keine Distanz erlaubt, sondern das gefangennimmt und auf Identifikation dringt: Ja, solche Kreuzesmomente gibt es im Leben. Und genau da ist Jesus am Kreuz mir nahe.

     2. Erlösung / Befreiung: „Und siehe, der Vorhang des Tempels zerriss in zwei Stücke“

Aber mit dem Kreuz und dem Elend, mit dem Verlassensschrei endet die Passionserzählung des Matthäus nicht. Matthäus ist der einzige Evangelist, der von wundersamen Ereignissen zu berichten weiß, die sich einstellen. Ein erstes solches Ereignis ist ein Erdbeben, bei dem ganze Felswände zerbersten.

Die Erde schweigt also nicht, wenn der Gottessohn stirbt: Ein Zeichen dafür, dass Gott selbst erschüttert ist. Und damit wird schon erahnbar: Gott ist trotz seiner „skandalösen“ Abwesenheit am Kreuz verborgen anwesend geblieben. Gott lässt sich auf das ein, was keiner will und doch jeder erleben muss: auf Leiden und Sterben. Am dritten Tag werden es die Jüngerinnen und Jünger dann erleben, wie Gott an ihm mitten im Tod handelt. Das Kreuz Jesu muss von Ostern her gedeutet und verstanden werden, nur so steht es im rechten Licht.

Ostern zeigt: Gott ist anwesend geblieben: „Von daher wird das Kreuz zum Evangelium, zum Angebot für alle Menschen in leidvoller Verlorenheit und Verlassenheit. Wie am Leben und Wirken Jesu kann von der Auferstehung her auch an seinem Leiden und Sterben sichtbar werden: Dieser Gott ist ein Gott mit uns, bei uns und für uns, auch wenn wir ganz unten sind.“.[3]

Und das hat Auswirkungen für uns:

Gott mit uns, bei uns, für uns: Er weiß um unsere Schuld, um das, was schieflief. Er will, das wir innerlich wieder frei werden. Matthäus erzählt davon in einem Bild, dass die Juden damals verstanden haben, ein zweites wunderhaftes Ereignis, das er dem Karfreitag zuordnet: „Der Vorhang im Tempel zerriß in zwei Stücke von oben an bis unten aus“.Dieser hier gemeinte Vorhang im Tempel befand sich zwischen dem Heiligen und dem Allerheiligsten im Tempel: Dorthin durfte nur einmal im Jahr der Hohepriester, nachdem er langwierige Reinigungsrituale durchlaufen hatte. Die gewöhnlichen Menschen mit ihrer Schuld konnten nicht in diese Gegenwart Gottes treten. Hinter dem Vorhang: der Ort der unmittelbaren Gegenwart Gottes. Dieser Vorhang ist zerrissen. Die Trennung zwischen Gott und Mensch ist aufgehoben: Mit meiner Schuld kann ich zu Gott kommen, er wendet sich nicht ab, sondern ist für mich da, und er wird sie verwandeln. Und er hilft zu einem Neuanfang mit anderen. Neue Wege werden möglich.

Gott mit uns, bei uns, für uns: Auch wenn ich einen lieben Menschen in den Tod hergeben musste. Matthäus nimmt in seinem Karfreitagsbericht vorweg, was einmal geschehen wird und beschreibt ein drittes wundersames Ereignis: „Die Gräber taten sich auf, und viele Leiber der entschlafenen Heiligen standen auf und gingen aus den Gräbern nach seiner Auferstehung und kamen in die heilige Stadt.“ Ja, der Tod hat nicht mehr das letzte Wort, weil Gott am Karfeitag mit in den Tod ging und ihn überwunden hat. Von Ostern her keimt Hoffnung in all unseren Karfreitagen auf. Der Weg wird weitergehen: Die Familie wird das schaffen, auch ohne den Papa und Ehemann. Es wird schwer werden. Aber das Leben wird für alle noch viel Gutes bereithalten. Es ist ein innerer und äußerer Weg, den sie gehen werden. Mit dem lebendigen Gott.

Und auch dem Jugendliche, der nicht ernstgenommen wird und immer nur Spott abbekommt, sei gesagt: Lass dich nicht unterkriegen, Gott ist mit dir. Mach dich nicht abhängig von dem, was andere denken und sagen und tun. Du gehst deinen Kreuzweg, aber du wirst auch sehen und erleben, was für Freude das Leben bereithält, auch gerade in guten und tiefen Beziehungen zu anderen.

Gott mit uns, bei uns, für uns. Mitten in der Verlassenheit des Kreuzes zeigt uns Matthäus mit seiner Schilderung von der bebenden Erde, vom zerreißenden Vorhang, von den sich öffnenden Gräbern Hoffnung an. So markiert er das Kreuz Jesu als ein befreiendes Geschehen.

Der Hauptmann hat das letzte Wort: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!“. Dieser römische Soldat hat eine Ahnung davon bekommen, wen er da ans Kreuz gehängt hat, hängen musste. Und doch ist das, was er sagt, nur rückwärtsgewandt: Er ist Gottes Sohn gewesen. Ganz anders werden es dann die Seinen am dritten Tag bekennen und bezeugen: Denn er ist Gottes Sohn, ist es am Kreuz und ist es als Auferstandener und als bis heute Gegenwärtiger. Sein Tod hat Heilsbedeutung, hat Konsequenzen, die Heil und Leben bewirken.

Liebe Gemeinde, ich komme zurück zum Anfang. Das Mädchen sieht ein Kruzifix und fragt: „Ist das wirklich oder nur ein gemachtes Bild?“

Wir wissen: Es ist ein wirkliches Bild, tatsächlich in dieser Grausamkeit so geschehen.

Ein Bild, das auf Identifikation zielt: Der Gekreuzigte identifiziert sich mit mir und meinen Kreuzwegen, und ich mich an meinen Karfreitagen mit ihm.

Das Kreuz zeigt: Wir trauen Gott zu, dass er bei uns ist, gerade auch in Zeiten, in denen wir von Leid und Tod umfangen sind. Ein Bild, das für unser Leben Wirklichkeit werden will, ein Bild, das befreien will.

Was also dem Mädchen antworten?

Die Antwort an das Kind muss eine Osterantwort sein: „Ja, Jesus ist am Kreuz gestorben. Aber Gott hat ihn auferweckt von den Toten, das Leben siegt. Gott ist mit uns, auch wenns uns schwer ums Herz ist, und macht es wieder gut.“. Das versteht ein fünfjähriges Kind, und kann gut damit leben.

Ich schließe mit Zeilen von Albert Frey:

Es gibt bedingungslose Liebe,
Die alles trägt und nie vergeht
Und unerschütterliche Hoffnung,
Die jeden Test der Zeit besteht.
Es gibt ein Licht, das uns den Weg weist,
Auch wenn wir jetzt nicht alles sehn.
Es gibt Gewissheit unsres Glaubens,
Auch wenn wir manches nicht verstehn.

Es gibt Versöhnung selbst für Feinde
Und echten Frieden nach dem Streit,
Vergebung für die schlimmsten Sünden,
Ein neuer Anfang jederzeit.
Es gibt ein ewges Reich des Friedens.
In unsrer Mitte lebt es schon:
Ein Stück vom Himmel hier auf Erden
In Jesus Christus, Gottes Sohn.

Es gibt die wunderbare Heilung,
Die letzte Rettung in der Not.
Und es gibt Trost in Schmerz und Leiden,
Ewiges Leben nach dem Tod.
Es gibt Gerechtigkeit für alle,
Für unsre Treue ewgen Lohn.
Es gibt ein Hochzeitsmahl für immer
Mit Jesus Christus, Gottes Sohn.

Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.